Die chinesische eCommerce-App Temu sorgt weltweit für Aufsehen. Innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung im Herbst 2022 wurde die App fast 40,5 Millionen Mal heruntergeladen. Ähnlich beeindruckend ist der Erfolg des Fast-Fashion-Händlers SHEIN, dessen App zwischen dem 1. Januar und dem 10. Oktober 2023 weltweit 208 Millionen Mal heruntergeladen wurde.
Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Marken? Ein wesentlicher Faktor sind die extrem niedrigen Preise, die in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten und Inflation besonders attraktiv für die Verbraucher*innen sind. Das ist allerdings längst nicht der einzige Grund. In diesem Artikel schauen wir auf weitere Faktoren, die dazu beitragen, dass Temu und SHEIN den eCommerce-Markt aktuell in Aufregung versetzen.
Temus Strategie auf einen Blick
Temu besticht vor allem durch die unglaublich niedrigen Preise. Der Marktplatz bietet Produkte an, die bis zu 90% günstiger sind als bei anderen Händlern – und das inklusive kostenlosem Versand. Das Geheimnis dahinter ist eine nahezu On-Demand-Produktion, die Lagerbestände und Gesamtkosten reduziert. Dies nennt sich „Reverse Manufacturing“.
Die App setzt zudem auf einzigartige Verkaufsstrategien. Gamification, Discovery-based-Shopping und Social Shopping in Form von Gruppenrabatten sorgen für Spaß beim Einkaufen und motivieren die Nutzer*innen zum erneuten Bestellen.Zudem haben Temus erfolgreiche Affiliate-Programme und eine extrem aggressive Marketingstrategie zu exponentiellem Wachstum beigetragen. Temu ist auf YouTube, TikTok und in App-Anzeigen allgegenwärtig und hat sogar eine Super-Bowl-Werbung geschaltet, die Berichten zufolge 14 Millionen Dollar gekostet hat.
Was steckt hinter Temus Erfolg?
Temus USP ist der Discovery-based-Ansatz beim Einkaufen. Beim Öffnen der App erscheint direkt ein endloser, personalisierter Strom von Produktvorschlägen. Das animiert die Nutzer*innen dazu, aus Unterhaltungszwecken zu scrollen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf „Kaufen” klicken. Obendrein werden die Nutzer*innen auch mit In-App-Spielen unterhalten, die mit Gewinnen und Belohnungen locken.
Social Shopping und Affiliate-Rabatte motivieren die Nutzenden ebenfalls, ihre Freund*innen zur App einzuladen. Beim Social Shopping schließen sich User*innen beim Kauf zusammen und erhalten einen Gruppenrabatt, wenn ein bestimmter Schwellenwert erreicht wird.
Darüber hinaus nutzt Temu mit Reverse Manufacturing eine innovative Strategie, mit dem das eCommerce-Unternehmen sein Produktinventar in Echtzeit an die Nachfrage der Kund*innen anpassen kann. Anfangs werden zunächst kleine Mengen eines Produkts hergestellt. Die Produktion beliebter Artikel wird hochgefahren, während weniger beliebte Produkte zügig aus dem Sortiment genommen werden. Dies ermöglicht es dem Unternehmen, neue Produkte extrem schnell auf den Markt zu bringen und dabei kosteneffizient zu bleiben.
Temus umstrittene Seite
Temu ist aus mehreren Gründen in die Kritik geraten. Aufgrund der extrem niedrigen Preise gibt es Berichte, dass die Qualität und Haltbarkeit der Temu-Produkte unweigerlich gering sei. Daher steht Temu in der Kritik – sowohl wegen seiner mangelhaften Nachhaltigkeitsbemühungen als auch wegen des hohen Abfallaufkommens seiner Produkte, was ernsthafte Umweltbedenken auslöst.
Zudem soll die Fast-Fashion-Brand ihre Händler streng kontrollieren und diese unter anderem zu Preissenkungen drängen. Auch hinsichtlich Plagiaten bei neuen Designs und der Einhaltung von Materialvorschriften gibt es Bedenken. Schließlich haben lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne zu Vorwürfen der Arbeitsausbeutung geführt.
SHEINs Strategie auf einen Blick
SHEINs Strategie ist der von Temu in Bezug auf Preisgestaltung und Geschwindigkeit der Produkteinführung ähnlich – ihre Kleidung ist preiswert und wird „on-demand“ produziert, und sie bieten hohe Rabatte sowie eine Fülle verschiedener Gutscheine an, um den Verkauf anzukurbeln.
Influencer-Marketing ist ein wesentlicher Bestandteil von SHEINs Strategie. Sie arbeiten sowohl mit Mikro-Influencer*innen als auch mit westlichen Prominenten wie Katy Perry oder Rita Ora zusammen, die bei jungen Zielgruppen beliebt sind.
Da sie vor allem Gen-Z anvisieren, ist TikTok unverzichtbar. SHEIN ist die führende Marke auf TikTok und lockt Nutzer*innen mit einer Flut von Gutscheinen und Rabattcodes auf ihre Plattform.
Was steckt hinter SHEINs Erfolg?
SHEINs Influencer-Kooperationen haben dem Unternehmen geholfen, gezielt eine junge, modebewusste Zielgruppe anzusprechen, was wesentlich zu SHEINs schnellem Wachstum beigetragen hat.
Auf Plattformen wie TikTok und YouTube sind Kund*innen, Modeblogger*innen und Influencer*innen zu sehen, die „Unboxing“-Videos veröffentlichen. Diese zeigen, wie die Kund*innen ihre Pakete auspacken, Kleidung anprobieren und darüber sprechen, wo sie diese zu solch günstigen Preisen gefunden haben.
Bekannte Persönlichkeiten werden von SHEIN für gewöhnlich für ihre Werbung bezahlt. Kleinere Influencer*innen können sich über kostenlose Produkte im Austausch für ihre Unboxing-Videos freuen. Zusätzlich nehmen einige Influencer*innen an einem Empfehlungsprogramm teil. Sie bieten ihren Follower*innen SHEIN-Rabattcodes an und erhalten eine Provision von 10% bis 20% auf Empfehlungsverkäufe.SHEIN nutzt Influencer*innen auch, um sein Image aufzupolieren. So lud der eCommerce-Gigant mehrere Influencer*innen zu einer komplett bezahlten Markenreise ein, um das „Innovation Center“ von SHEIN in China zu besichtigen. Diese Reise – und die Influencer*innen, die daran teilnahmen – wurden jedoch stark kritisiert.
SHEINs umstrittene Seite
SHEIN stand bereits wegen einer Reihe verschiedener Probleme in der Kritik. Ein Hauptvorwurf ist, dass die Fabrikarbeiter*innen unter schlechten und potenziell unsicheren Arbeitsbedingungen leiden.
Wie auch Temu wird SHEIN dafür kritisiert, mutmaßlich billige, minderwertige Artikel zu produzieren. Dies enttäuscht nicht nur die Kund*innen, sondern wirft auch ernsthafte Fragen zur Nachhaltigkeit auf. Darüber hinaus gab es Beschwerden über die unrealistischen Schönheitsstandards, die SHEIN in seiner Werbung promotet, sowie über einen Mangel an kulturellem Feingefühl.
Was verschafft ihnen ihren Wettbewerbsvorteil?
Die Strategien von Temu und SHEIN haben vieles gemeinsam. So viel sogar, dass es bereits zu einem Rechtsstreit gekommen ist, und Analyst*innen glauben, dass sich Temu und SHEIN gegenseitig den Kundenstamm streitig machen. Beide sprechen vor allem Gen-Z an und setzen auf Influencer-Marketing, um sich als günstig, trendy und aufregend zu positionieren – wobei Temu den Mix noch um Gamification erweitert, um vom Dopaminrausch der Käufer*innen zu profitieren.
Wie geht es weiter?
Temu und SHEIN sind bekannt für ihren Low-Cost- und High-Volume-Ansatz mit niedrigen Kosten und hohen Verkaufszahlen. Ihr rasanter Aufstieg im westlichen eCommerce-Markt signalisiert einen Wandel im Verhalten von Verbraucher*innen.
Ihre Strategien sind zwar effektiv, könnten aber aufgrund der Kritik an ihren ökologischen und sozialen Auswirkungen langfristig nicht nachhaltig sein, da sich das Bewusstsein der Verbraucher*innen und die Vorschriften weiterentwickeln.
Für etablierte westliche Marken bietet dieses Szenario die Möglichkeit, zu lernen und sich anzupassen, ohne diese drastischen Taktiken direkt zu imitieren. Dabei sollten eCommerce-Unternehmen sich auf ihre einzigartigen Stärken wie Qualität, Nachhaltigkeit und ethische Praktiken konzentrieren, da diese Aspekte bei den Verbraucher*innen zunehmend geschätzt werden.
Im Wesentlichen bietet der Erfolg von Temu und SHEIN etablierten Marken die Gelegenheit, ihre Werte neu zu bewerten und zu stärken. Indem sie ihre Kernwerte betonen und auf sich ändernde Verbraucherbedürfnisse reagieren, können diese Marken effektiv konkurrieren und neue Standards im eCommerce-Markt setzen. Nur so kann Rentabilität mit sozialer und ökologischer Verantwortung in Einklang gebracht werden.